Autismus verstehen

Zwischen Vorurteilen und Wirklichkeit

Was ist Autismus? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheint. Unterschiedliche Perspektiven führen zu verschiedenen Definitionen – einige sehen Autismus als Defizit, andere als Superkraft, und wieder andere versuchen ihn zu verharmlosen. Doch Autismus ist vor allem eines: ein neurologischer Unterschied. Um das Autismus Spektrum besser zu verstehen, lohnt es sich, verschiedene Blickwinkel zu betrachten.

Die medizinisch-psychologische Perspektive

Aus psychiatrischer und psychologischer Sicht wird Autismus oft als eine Störung definiert, die diagnostiziert wird, wenn Betroffene unter negativen Auswirkungen leiden. Die Diagnosekriterien in DSM und ICD basieren auf gesellschaftlichen Massstäben und fokussieren darauf, wie AutistInnen aus der Norm fallen. Oft entstehen Schwierigkeiten nicht durch den Autismus selbst, sondern durch gesellschaftliche Barrieren, die Betroffene einschränken. Autistische Menschen erleben oft Diskriminierung, Mobbing oder strukturelle Benachteiligungen, die ihr Wohlbefinden beeinflussen. Eine Diagnose basiert also nicht auf einer neutralen wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern auf subjektiven Bewertungen und sozial konstruierten Massstäben.

Autismus als Superkraft?

Manche Narrative stellen Autismus als besondere Begabung oder Superkraft dar. Autistische Menschen werden dann als Genies oder kreative Visionäre gesehen. Diese Perspektive ist jedoch ebenso problematisch wie die rein defizitäre Sichtweise. Viele AutistInnen benötigen täglich Unterstützung und haben grosse Schwierigkeiten im Alltag. Das Bild des hochbegabten Autisten führt dazu, dass jene, die nicht in dieses Idealbild passen, übersehen oder ihre Bedürfnisse nicht ernst genommen werden. Autismus ist vielfältig: Eine Person kann herausragende Fähigkeiten in einem Bereich haben und gleichzeitig grosse Herausforderungen in anderen Bereichen erleben. Eine einseitige Darstellung wird der Komplexität nicht gerecht.

Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang die sogenannte Aspie Supremacy, eine Haltung, die AutistInnen mit bestimmten Fähigkeiten oder einer früheren Asperger-Diagnose als überlegen gegenüber Neurotypischen oder anderen AutistInnen ansieht. Diese Denkweise kann dazu führen, dass Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf abgewertet und unsichtbar gemacht werden. Zudem kann sie Solidarität innerhalb der Neurodiversitätsbewegung untergraben und bestehende Barrieren aufrechterhalten. Auch hier zeigt sich, dass eine differenzierte Sichtweise notwendig ist, um allen AutistInnen gerecht zu werden.

„Wir sind doch alle ein bisschen autistisch.“

Dieser Satz fällt oft in Diskussionen über Autismus, ist jedoch aus Sicht vieler AutistInnen problematisch. Autismus ist keine lose Sammlung von Eigenheiten, sondern eine tiefgreifende neurologische Andersartigkeit. Die Unterschiede in Wahrnehmung, Kommunikation und Verarbeitung von Informationen sind grundlegend und nicht einfach eine verstärkte Version neurotypischer Eigenschaften. Zudem wird der Begriff „autistisch“ in der Gesellschaft manchmal als Synonym für unsoziales oder egoistisches Verhalten verwendet – eine unzutreffende und schädliche Fehlinterpretation.

Der Einfluss der Lebensumstände

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Autismus oft erst diagnostiziert wird, wenn er zu Problemen im Alltag führt. Menschen, die durch Wohlstand, unterstützende Familien oder förderliche Umfelder weniger Herausforderungen haben, bleiben oft unentdeckt. Das bedeutet aber nicht, dass sie weniger autistisch sind. Ein autistisches Gehirn funktioniert unabhängig von äußeren Umständen anders – doch ein positives Umfeld kann dazu beitragen, dass autistische Menschen ihre Stärken entfalten und weniger Leidensdruck erleben.

Dies bedeutet auch, dass eine autistische Person je nach Tagesform und äusseren Bedingungen mal mehr und mal weniger Unterstützung benötigt.

Autismus als neurologischer Unterschied

Autismus ist keine Charaktereigenschaft, sondern eine grundlegend andere Art der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Neurologische Studien zeigen messbare Unterschiede im Gehirn: Autistische Gehirne produzieren beispielsweise 42 % mehr Information im Ruhezustand als neurotypische Gehirne (Pérez Velázquez, Galán 2013). Ebenso wurde bei Kindern mit späterer Autismus-Diagnose ein verstärktes Hirnwachstum im ersten Lebensjahr festgestellt . (Hazlett, H., Gu, H., Munsell, B. et al 2017). Diese Erkenntnisse belegen, dass Autismus keine blosse Verhaltensbesonderheit ist, sondern tief in der biologischen Struktur des Gehirns verwurzelt ist. Es gibt aber noch keine allgemeingültigen Definitionen und Erklärungen, was diese objektiv messbaren Unterschiede im Gehirn bedeuten, und sie bieten keine Diagnostikgrundlage.

Viele AutistInnen bevorzugen daher die "Identity First" Formulierung – sie sehen sich als „autistische Menschen“ und nicht als „Menschen mit Autismus“, weil Autismus keine separate Eigenschaft ist, sondern untrennbar mit ihrer gesamten Wahrnehmung und Existenz verbunden ist.

Fazit

Autismus lässt sich nicht auf eine einfache Definition reduzieren. Weder die defizitorientierte noch die übermäßig positive Darstellung spiegelt die Realität wider. Autismus ist ein neurologischer Unterschied, der sowohl Herausforderungen als auch Stärken mit sich bringt. Entscheidend ist, dass die Gesellschaft Rahmenbedingungen schafft, die AutistInnen nicht ausschließen, sondern ihnen ermöglichen, ihr volles Potenzial zu entfalten. Nur durch eine differenzierte und respektvolle Auseinandersetzung kann ein echtes Verständnis für Autismus entstehen.

Das Konzept des Autismus-Spektrums hilft dabei, die grosse Vielfalt autistischer Menschen zu beschreiben. Obwohl die Ausprägungen von Autismus sehr unterschiedlich sein können – von non-verbalen Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf bis hin zu AutistInnen, die weniger Unterstützung im Alltag benötigen –, teilen alle eine grundlegende neurologische Andersartigkeit. Diese Gemeinsamkeit zeigt, dass Autismus nicht in starren Kategorien gedacht werden kann, sondern als ein Spektrum mit individuellen Stärken und Herausforderungen zu verstehen ist, das in seiner Ausprägung auch von gesellschaftlich gesetzten Erwartungen, Überforderungen und Barrieren bestimmt wird.

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Autismus und Erschöpfung